Der Tempel und der Hirtenstern

Im Albino-Verlag sind in diesem Jahr zwei empfehlenswerte Bücher von britischen Autoren erstmals in deutscher Sprache erschienen. „Der Tempel“ von Stephen Spencer und „Der Hirtenstern“ von Alan Hollinghurst. Ein Lesetipp für die dunkle Jahreszeit.

Bild: Buchcover "Der Tempel" und "Der Hirtenstern"
© Albino Verlag

Der Tempel

Stephen Spender

Das Buch „Der Tempel“ von Stephen Spencer (1909-1995) ist eine Mischung aus Reisebericht und Coming-of-Age-Story – und zugleich ein interessantes Porträt Deutschlands in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der britische Dichter, Autor und Gelehrte, der 1983 von Queen Elisabeth II. zum Ritter geschlagen wurde, begann schon 1929 mit der Arbeit an seinem Roman „The Temple“, der aber erst 1988 fertiggestellt und herausgegeben wurde. 2022 ist er in deutscher Sprache erschienen, übersetzt von Sylvia List.


Paul Schoner, ein junger Engländer (und das Alter Ego des Autors) reist zehn Jahre nach Kriegsende nach Hamburg. Er ist begeistert von der reichhaltigen Kultur und der gesellschaftlichen Offenheit der 1920er-Jahre. Während in seiner Heimat Traditionsversunkenheit und Prüderie zu Hause sind, findet er in Deutschland eine bewegte Jugend und einen freizügigeren Lebensstil vor. Er freundet sich mit dem jungen Fotografen Joachim Lenz an. Paul und Joachim erkunden zusammen Nachtbars und Strandbäder – und gehen auf eine gemeinsame Reise den Rhein entlang. Doch in Deutschland erstarken Nationalismus und Antisemitismus. Paul verlässt Hamburg, als Nazis Joachims Wohnung verwüsten.


In der Figur des Joachim ist der Hamburger Fotograf Herbert List (1903-1975) zu erkennen, mit dem Stephen Spender befreundet war. Von ihm stammen auch die Fotos auf dem Buchumschlag, die Stephen Spender und seinen Freund Franz Büchner 1929 am Rhein zeigen. Erst kürzlich war in einer Ausstellung im Bucerius Kunst Forum der Hansestadt das Werk Lists zu bewundern – darunter zahlreiche homoerotische Fotografien aus jener Zeit.


„Der Tempel“ ist – wie es im Klappentext zutreffend heißt – „ein großer Roman über den Freiheitsdrang einer jungen Generation und ein Land am Vorabend der politischen Katastrophe, der im Angesicht des Erstarkens Neuer Rechter eine beklemmende Aktualität erfährt.“

 

Stephen Spender: Der Tempel
Albino Verlag, Berlin 2022
Gebunden, 304 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-86300-337-1

 

Bild: Buchcover "Der Tempel"
© Albino Verlag / Salzgeber

Der Hirtenstern

Alan Hollinghurst

Ein weiteres literarisches Schätzchen ist der Roman „Der Hirtenstern“ von Alan Hollinghurst. Es ist der zweite Roman des britischen Schriftstellers, dessen Erstausgabe („The Folding Star“) bereits 1994 herausgegeben wurde. Im Frühjahr 2022 ist das Werk in deutscher Sprache erschienen – übersetzt von Joachim Bartholomae.


Protagonist in „Der Hirtenstern“ ist Edward Manners, ein wenig erfolgreicher Autor, Anfang 30. Aus der südostenglischen Provinz zieht es ihn ins belgische Brügge, wo er als Privatlehrer arbeitet. Hier taucht er ein ins schwule Leben der Kleinstadt, das sich vorwiegend in schummrigen Kneipen und Parks abspielt. Detailreich schildert Hollinghurst, wie schwule Männer in den 1990er-Jahren, in denen es noch keine Dating-Apps gab, einander suchten und fanden – zur Liaison oder zum schnellen Sex.


Auch Edward geht hier auf Männerfang, doch er hat sich bereits in seinen Nachhilfeschüler, den 17-jährigen Luc, verguckt. Aus anfänglicher Verliebtheit wird mit der Zeit Obsession, die sich bis ins Krankhafte steigert. Sein Gefühlsleben ähnelt in gewisser Weise den mysteriös-morbiden Gemälden des belgischen Malers Edgard Orst, die er im Stadtmuseum kennengelernt hat und die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.


Alan Hollinghurst (* 1954) erhielt für seine Romane zahlreiche Auszeichnungen, darunter den renommierten Booker Prize für seinen Roman „The Line of Beauty“ (2004). Die LGBT-Literaturorganisation Publishing Triangle verlieh Hollinghurst 2011 den Bill Whitehead Award für sein Lebenswerk.

 

Alan Hollinghurst: Der Hirtenstern
Albino Verlag, Berlin 2022
Gebunden, 624 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-86300-331-9

 

Bild: Buchcover "Der Hirtenstern"
© Albino Verlag / Salzgeber

Text: Oliver Erdmann